IWD Spotlight: Ein Gespräch mit Anju Srivastava, Gründerin von Wingreens Farms
Paul: Was für eine Ehre, Sie kennenzulernen, Anju. Vielleicht können Sie sich zunächst einmal kurz vorstellen und erläutern, was Wingreens ist und woher der Name kommt.
Anju: Wir haben Wingreens im Jahr 2008 mit dem WIN – Women’s Initiative Network gegründet. Das war uns wichtig, weil wir, nachdem wir fast 25 Jahre in der Werbeindustrie gearbeitet und mein Mann und ich einige Zeit in den USA gelebt hatten, in unsere Heimat zurückkehren und der Gesellschaft hier etwas zurückgeben wollten. Wir wollten uns mit all dem, was wir durch unsere jahrelange Arbeit erlangt hatten, für positive Veränderungen in Indien einsetzen. Und da fiel unser Blick sofort auf die Themen Landwirtschaft und Frauen, weil in Indien immer noch 60% der Bevölkerung im landwirtschaftlichen Sektor arbeiten und Frauen als schwächerer Teil der Gesellschaft gelten, obwohl sie eine enorme Ressource darstellen.
«Frauen sind eine enorme Ressource. Sie können das Blatt für unser Land wenden, wenn wir ihre Kraft freisetzen.»
Anju Srivastava
WIN ist die Abkürzung von Women’s Initiative Network und Green steht für Landwirtschaft. Deshalb heisst unser Unternehmen Wingreens.
Paul: Was sind die grössten Herausforderungen für Bauern in Indien? Und wie ist die Situation der Frauen in der Landwirtschaft?
Anju: In Nordindien, wo wir aktiv sind, werden die schweren Arbeiten in den Agrarbetrieben weitgehend von Frauen verrichtet. Die Männer bedienen hauptsächlich die Traktoren und Bewässerungssysteme. Das Säen, das Ernten und das Weben übernehmen die Frauen. Ausserdem kümmern sich die Frauen um die Familie und alle im Haushalt anfallenden Arbeiten wie das Sammeln von Feuerholz. Leider haben sie keine Ausbildung, die ihnen eine Tätigkeit ausserhalb der Landwirtschaft ermöglichen würde. Ein Problem besteht darin, dass der indische Agrarsektor mit keiner Form von Weiterverarbeitung verbunden ist. Er ist nur mit Märkten verbunden. Diese Märkte aber haben feste Preise und die Bauern sind diesen Märkten ausgeliefert. Sie müssen ihre Erzeugnisse zu dem von der Regierung festgesetzten Preis verkaufen. Davon können sie nicht leben. Das bestimmt ihr Schicksal.
Ausserdem ist das Land in Indien sehr parzelliert. Die Bauern besitzen keine grossen Flächen. Weil sie nur sehr wenig Land besitzen, sind ihre Ernten und der Preis, den sie für ihre Erzeugnisse erhalten, auch sehr gering. Wenn man die Ernte von einem oder zwei Hektar multipliziert, kommt nichts dabei heraus. Davon kann keine Familie leben.
Wir dachten uns: Wenn Frauen in die Weiterverarbeitung einbezogen und in der Weiterverarbeitung qualifiziert würden, könnte das den Bauern helfen. Sie wären nicht mehr gezwungen zu verkaufen, wenn der Preis am tiefsten ist. Durch eine Veredelung ihrer Produkte könnten sie höhere Einkommen erzielen. Deshalb haben wir uns in diesem Bereich engagiert. Wir wollten die Frauen in der Weiterverarbeitung von Agrarprodukten ausbilden, damit mehr Geld in die Familien fliessen kann.
Deshalb bauten wir ein neues System auf. Wir beschlossen, die Landflächen von den Bauern zu pachten. Dafür zahlten wir ihnen den Mindestpreis, den sie mit ihrer Ernte erzielen würden, sowie einen kleinen Zuschlag. Dann stellten wir sie als Farmmanager ein, damit sie sich um Dinge wie die Koordination der Bewässerungssysteme kümmern würden. Ausserdem stellten wir Frauen ein, die durch ihre Arbeit in dem Agrarbetrieb ein eigenes Einkommen erzielen konnten. Aus den Frauen der Familie, die zuvor umsonst gearbeitet hatten, wurden somit entlohnte weibliche Beschäftigte. Anschliessend richteten wir durchgängige Prozesse ein und vermittelten den Frauen die nötigen Kompetenzen, um in der Weiterverarbeitung zu arbeiten und so zur Wertschöpfung des Gesamtbetriebs beizutragen.
Das gab den Bauern Selbstvertrauen und entwickelte sich zu einem Modell, das entweder von NGOs, sozial orientierten Unternehmen oder sogar von den Bauern selbst betrieben werden konnte. So sah das Modell aus, mit dem wir bei Wingreens an den Start gingen.
Dass Frauen für uns eine so wichtige Zielgruppe waren und sind, liegt auch an problematischen kulturellen Gegebenheiten in einigen Gegenden Indiens – vor allem der Tatsache, dass das Einkommen der Familie häufig in den Händen der Männer landet und dann oft für Glücksspiel oder Alkohol ausgegeben wird. Das Geld fliesst nicht komplett zurück in die Familien und eine Verbesserung ihrer Lebensqualität. Dadurch bleiben die Kinder weniger gebildet, weil ein Grossteil des Familieneinkommens ausgegeben wird, bevor es nach Hause gelangt. Wird das Geld dagegen in die Hände von Frauen gegeben, fliesst es fast vollständig in die Familie zurück und führt zu einer besseren Lebensqualität und Bildung für die Kinder und die Familie insgesamt. Das war ebenfalls ein sehr wichtiger Grund für uns, mit Frauen zu arbeiten.
Paul: Was für eine Ausbildung bieten Sie den Frauen an? Welche technischen und fachlichen Kompetenzen eignen sie sich an?
Anju: Wir begannen unser Modell zunächst mit ein paar Frauen in einem Dorf in der Nähe des landwirtschaftlichen Betriebs. Diese Frauen waren fast völlig ungebildet, das heisst, sie waren in der Schule nicht über die zweite oder dritte Klasse hinausgekommen. Wir wollten herausfinden, ob sie überhaupt Interesse an einer Ausbildung hatten, ob sie eine Ausbildung absolvieren wollten und wie lange wir brauchen würden, um sie auszubilden. Der andere Punkt ist, dass diese Frauen im Kreis ihrer Familie arbeiten mussten. Da sie nicht für andere Arbeiten aus dem Haus gehen durften, hatten sie das Haus nicht verlassen und so auch keinen eigenen freien Willen entwickelt.
Es dauerte eine Weile, bis wir ihre Familien überzeugen konnten, es ihnen zu erlauben, zu uns zu kommen und von uns zu lernen. Wir wollten den Frauen Kompetenzen in der Lebensmittelverarbeitung, der Lebensmittelsicherheit und der Lebensmittelhygiene vermitteln und sehen, wie sie damit umgehen. Tatsächlich kostete es die Frauen grosse Überwindung, zu uns zu kommen, weil sie von ihren Schwiegermüttern und Ehemännern gesagt bekamen, dass es für sie nicht sicher sein könnte. Also sagten wir: Lasst sie für zwei Stunden pro Tag kommen.
Und wir bezahlten sie für das Lernen. Nicht viel, aber einen kleinen Betrag. Und wenn sich die Schwiegermutter darüber beschwerte, mit der ganzen Hausarbeit allein gelassen zu werden, luden wir auch sie ein. Und irgendwie schafften es die Frauen, auch den Haushalt erledigt zu bekommen. Aber dann fragten sie uns: Und was machen wir mit den Kindern? Also sprachen wir mit einem NGO und die Organisation richtete eine Schule für die Kinder ein, sodass die Mütter ihre Kinder mit zur Arbeit nahmen und hier in die Schule brachten. Wir fingen mit zwei Stunden pro Tag an und erhöhten nach und nach auf erst vier, dann sechs und schliesslich acht Stunden pro Tag. So lief es.
Das Faszinierende ist, dass diese Frauen, die zuvor nie ihr Haus verlassen oder eigene Lebensvorstellungen entwickelt hatten, nun plötzlich, im Laufe von ein paar Jahren, die kulinarische Welt bereisten. Sie bereiteten italienisches Basilikumpesto, orientalischen Hummus und mexikanische Salsa zu. Es war unglaublich. Wir produzierten internationale Produkte und alle fragten uns, wer unser Chefkoch sei, woraufhin ich stets antwortete: Wir haben keinen Chefkoch, das sind unsere Frauen.
«Unsere Frauen haben ihr Haus nie verlassen, aber die kulinarische Welt bereist.»
Mit diesen internationalen Spezialitäten begeisterten sie das gesamte Land. Es war faszinierend zu sehen, mit welchem Engagement und Fleiss die Frauen Lebensmittelhygiene studierten. Wir bekommen kaum Beschwerden. Wir unterliegen den gleichen Gesetzen wie die grossen Unternehmen und Industrien. Und wir kommen klar. Wir haben die gleichen, wenn nicht sogar bessere Standards. Und all das haben wir den Frauen zu verdanken.
Wir haben schnell gemerkt, dass die Frauen in Indien kein schwächeres Glied der Gesellschaft sind. Sie sind eine enorme Ressource. Sie können das Blatt unseres Landes wenden, wenn wir ihre Kraft freisetzen. Wir müssen sie schulen, ausbilden UND ihnen Arbeit geben. Es hat viele Ausbildungsinitiativen ohne Beschäftigungsperspektiven gegeben. Das ist absolut nutzlos.
Paul: Welche Folgen hat die Covid-Krise für das ländliche Indien und Ihr Unternehmen?
Anju: Das ist eine gute Frage. Die Covid-Krise hat die städtischen Regionen in Indien stärker getroffen als das ländliche Indien. In Indien ist Covid eher eine Krankheit der Reichen. Die Armen können sich den Luxus, Angst vor Covid zu haben, nicht leisten. Sie müssen weitermachen. Sie leben von der Hand in den Mund. In Indien wurde der erste landesweite Lockdown am 24. März 2020 verhängt und am 30. März waren unsere Frauen wieder bei der Arbeit. Unser Gebiet wurde von der Regierung als Sperrzone eingestuft, was bedeutet, dass die Behörden hier strenger waren als in anderen Gebieten. Die Frauen gingen aber zur Polizeistation und überzeugten die Polizisten, dass sie dieses grosse Gebiet kaum komplett zur Sperrzone erklären könnten. Sie bekamen die Erlaubnis und kamen zurück zur Arbeit. Sie waren die ersten, die wieder die Arbeit aufnahmen. Sie waren vor unseren Führungskräften und Managern zurück an ihrem Arbeitsplatz. Und weil sie zurückkamen, mussten auch alle anderen wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Unter unseren Frauen hat es die ganze Zeit keinen einzigen Covid-Fall gegeben.
«In Indien ist Covid eher eine Krankheit der Reichen. Die Armen können sich den Luxus, Angst vor Covid zu haben, nicht leisten. Sie müssen weitermachen.»
Die landwirtschaftlichen Betriebe waren noch weniger betroffen. Aber weil die Läden geschlossen waren und der Bahnverkehr ausgesetzt wurde, stockte das Geschäft für einige Monate. Daher mussten wir auch die Produktion entsprechend zurückfahren. Insgesamt hat sich unser Betrieb aber als sehr widerstandsfähig erwiesen.
Paul: Werfen wir noch einen Blick auf die Zeit nach Covid: Wie schätzen Sie die langfristigen Aussichten für die gesunden und nachhaltigen Produkte, die Sie in Indien herstellen, ein?
Anju: Das ist ein interessanter Punkt. Das Gesundheitsbewusstsein nimmt insgesamt zu. Ausserdem haben die Menschen mehr Zeit, sich Gedanken über ihre Ernährung zu machen. Das ist eine Folge des Arbeitens im Homeoffice. Die Aussichten sind sehr, sehr gut, aber der Gesundheitstrend wird nicht in Fanatismus umschlagen. Ein grösserer Trend, an dem unsere Produkte ebenfalls teilhaben, ist der Trend zu «Convencience-Produkten», die den Alltag einfacher machen. Jetzt, da viele für sich selbst kochen, wünschen sie sich Essen, das sich einfacher zubereiten lassen. In den städtischen Haushalten in Indien waren Haushaltshilfen seit jeher gang und gäbe. Mit der Covid-Krise fielen diese plötzlich aus. Daher kochen jetzt alle selbst. Und unsere Produkte bedienen zwei Marktsegmente: das Essen, das zuvor von Haushaltshilfen zubereitet wurde, und Lebensmittellieferungen, weil viele Angst haben, Essen nach Hause zu bestellen.
Mit unseren Produkten, unseren gesünderen und viel schmackhafteren Dips und Saucen, erhalten die Menschen zu Hause ein Essen in Restaurantqualität. Covid hat den schlummernden Koch in den Menschen geweckt ... genauso wie den Fitness-Freak.
Paul: Ja, in uns allen steckt ein Koch- und Sporttalent ... in meinem Fall sind beide sehr gut versteckt. Aber zurück zur aussergewöhnlichen Erfolgsstory von Wingreens. War es für Sie als Mitgründerin einer erfolgreichen Marke jemals ein Hindernis, eine Frau zu sein? Und welche Erfahrungen und Ratschläge würden Sie an andere Unternehmerinnen weitergeben?
Anju: Ich habe es sogar als Vorteil empfunden, als Frau ein Unternehmen zu gründen. Gerade in Indien sind die Frauen Meisterinnen im Multitasking. Bei den Männern sehe ich das sehr viel weniger. Wir Frauen tun Vieles auf einmal und haben ganz eigene, interessante Ansätze, Dinge miteinander zu verknüpfen und aus allem, was wir tun, das Beste zu machen. Wir schieben nichts auf morgen.
Es hat auch etwas mit dem Muttersein zu tun, denke ich. Man ist sich einfach sehr im Klaren über seine Rolle. Wenn man sein Unternehmen wie ein eigenes Kind betrachtet, tut man, was immer nötig ist, um es weit zu bringen und erfolgreich zu machen. Und dieses Kind ist die Summe jeder einzelnen Person im Unternehmen. Als Frau hat man daher eine ganz andere Einstellung.
Man kann nach draussen schauen und sagen, die Leute verhalten sich auf eine bestimmte Art und Weise oder nehmen einen nicht ernst. Ich halte das für Zeitverschwendung. Man muss selbst erreichen, was man erreichen will. Man muss den Weg gehen, den man gehen will – ganz egal, was andere sagen oder denken.
Ich glaube nicht, dass es für Männer weniger Hürden gibt; es sind nur andere Hürden. Und Frauen sehen sich mit anderen, aber nicht mehr Hindernissen konfrontiert. Wenn man sich über seine eigenen Ziele im Klaren ist und weiss, welchen Weg man gehen möchte, so wie ich, dann kann man diese Hürden überwinden. Mich zumindest hat nichts aufgehalten, nur, weil ich eine Frau bin.
«Ich sehe die Hürden nicht. Sie spielen keine Rolle. Wichtig ist, was ich für mich, für mein Land und für meine Familie erreichen möchte.»
Paul Hailey
Paul Hailey ist Head of Sustainability and Impact bei responsAbility Investments und Autor verschiedener Publikationen und Artikel. Bei responsAbility war er zuvor unter anderem als Senior Research Analyst für den Finanzsektor tätig. Er hat einen MBA von der École des Hautes Études Commerciales de Paris (HEC Paris), wo er auch als Dozent tätig ist, und einen B.A. (Hons) vom Pembroke College, University of Cambridge.