Schwellenländer trotzen Widerständen
Die globale Wirtschaft erlebte in den letzten Jahren erhebliche Schwankungen. Zuerst kam es zu einem pandemiebedingten Abschwung, gefolgt von einer unerwartet starken Erholung. Unterbrechungen von Lieferketten, der Rückgriff auf Ersparnisse, angespannte Arbeitsmärkte und die russische Invasion in der Ukraine trugen alle zu einem Preisanstieg bei. Länder, die zuvor unter Deflationsängsten litten, sahen sich plötzlich einem erheblichen Inflationsdruck ausgesetzt. Der Inflationsschock löste unweigerlich einen Zinsschock aus, woraufhin die grossen Zentralbanken – etwas verspätet – die Geldpolitik so schnell wie seit Jahrzehnten nicht mehr strafften. Schliesslich erreichten die Leitzinsen ihren Höhepunkt, aber angesichts der robusten Wirtschaftstätigkeit und der langsamen Desinflation sind die globalen Finanzierungsbedingungen seit geraumer Zeit eher angespannt.
Widerstandsfähigkeit inmitten globaler Herausforderungen
Trotz all dieser Widrigkeiten erwies sich die Aktivität in den Schwellen- und Entwicklungsländern (EMDEs) als wesentlich widerstandsfähiger als ursprünglich erwartet. So lag das reale BIP der EMDEs Ende 2023 um 0,9 Prozentpunkte höher als der IWF im Oktober 2022 prognostiziert hatte. Dies ist für eine Gruppe unterschiedlicher Länder mit einem Wachstumspotenzial von etwa 4 % pro Jahr beachtlich. Sicherlich gibt es erhebliche regionale und länderübergreifende Unterschiede, wobei einige Länder schlechter abschneiden als erwartet. Insgesamt zeichnet sich die Mehrheit der EMDEs jedoch durch ihre Widerstandsfähigkeit aus. Wie lässt sich dies erklären?
Gestärkte Institutionen untermauern Widerstandsfähigkeit
Mehrere Faktoren spielen eine Rolle, aber ein entscheidender Faktor waren die institutionellen Verbesserungen in den letzten zehn Jahren. Betrachtet man das überaus breite Anlagespektrum von responsAbility mit über 70 EMDEs, so zeigt sich eine deutliche Verbesserung von weltweiten Governance-Indikatoren der Weltbank, welche Bereiche wie die Effektivität der Regierung, die Rechtsstaatlichkeit und – in geringerem Masse – die Korruptionskontrolle abdecken.
Diese institutionelle Stärkung zeigte sich besonders deutlich in der Reaktion der Zentralbanken in den aufstrebenden Volkswirtschaften der Schwellen- und Entwicklungsländer auf die steigende Inflation in den letzten Jahren, wobei sich ihre Geldpolitik im Allgemeinen als reaktionsschneller und entschlossener erwies als die der Industrieländer. Darüber hinaus deuten verbesserte Aussenhandelsbilanzen, höhere Reserve-Puffer und weniger Wechselkursverzerrungen auf eine verbesserte Politikgestaltung in vielen aufstrebenden Volkswirtschaften der Schwellen- und Entwicklungsländer hin.
Pandemie belastet öffentliche Finanzen nachhaltig
Das soll nicht heissen, dass es keine EMDEs gibt, die derzeit Schwierigkeiten haben. Die Pandemie hat bleibende Narben hinterlassen, insbesondere in Form höherer Schuldenstände. Mehrere Staaten haben aufgehört, ihre Schuldenverpflichtungen zu bedienen, während andere in den kommenden Jahren wahrscheinlich in Zahlungsausfall geraten werden.
Betrachtet man die öffentlichen Schuldenquoten, insbesondere die Bruttostaatsverschuldung als Prozentsatz des BIP, so scheint die Verschuldung der Schwellen- und Entwicklungsländer auf dem höchsten Stand seit der Jahrtausendwende zu sein (wobei die Daten des IWF nicht weiter zurückreichen). Betrachtet man jedoch die Schuldentragfähigkeit, so ändert sich das Bild dramatisch. Trotz steigender Schuldendienstkosten in den letzten 10 Jahren verwenden die Schwellen- und Entwicklungsländer einen geringeren Teil ihrer öffentlichen Einnahmen für den Schuldendienst als in den frühen 2000er Jahren.
Zudem gab es in den letzten zehn Jahren keine systematische Verschlechterung der Ratings von EMDE-Staaten, wobei das mittlere Rating nur leicht gesunken ist. Die zentrale Entwicklung hier ist eine deutliche Differenzierung zwischen den Märkten, anstatt eines einheitlichen Trends.
Private Verschuldung vor allem in China sprunghaft angestiegen
Was die private Verschuldung angeht, so ist es auch hier so, dass die Verschuldungsniveaus zumindest insgesamt erheblich gestiegen sind. Die inländische Kreditvergabe an den Privatsektor, als Indikator für die private Verschuldung, hat sich in den EMDEs seit 2010 fast verdoppelt und ist bis 2023 von 73 % auf 135 % des BIP gestiegen. Im Vergleich dazu ist die Quote in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften nur leicht von 140 % auf 154 % gestiegen.
Wie viele andere aggregierte Messgrössen für die EMDE wird jedoch auch diese durch China und sein hohes Gewicht verzerrt. Ohne China, wo die Privatverschuldung bis 2023 dramatisch auf 195 % des BIP angestiegen ist, sieht das Bild für die EMDEs ganz anders aus, da die Kredite des Privatsektors in den letzten zehn Jahren auf einem relativ niedrigen Niveau ziemlich stabil geblieben sind, mit einem moderaten Anstieg während der Pandemie, der sich seitdem konsolidiert hat.1
Differenzierung statt Rückgang
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Schlagzeilen zwar häufig besorgniserregende Entwicklungen in einigen wenigen Ländern hervorheben – wie z. B. eine Umschuldung in der Ukraine, politische Unruhen in Bangladesch, Devisenknappheit in Bolivien oder eine Sicherheitskrise in Ecuador –, diese Situationen jedoch nur einen relativ kleinen Teil der EMDEs repräsentieren. In Wirklichkeit zeigt die überwiegende Mehrheit der EMDEs eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit und steuert erfolgreich durch die unruhigen Gewässer des heutigen komplexen globalen Umfelds.
1 Für eine Reihe von EMDEs sind die Daten zu inländischen Krediten an den Privatsektor für 2022 und 2023 noch nicht verfügbar. Daher könnten sich diese beiden aggregierten Datenpunkte (inländische Kredite in EMDE ohne China in den Jahren 2022 und 2023) noch ändern.
Philipp Waeber
Philipp Waeber ist Chefökonom von responsAbility. Mit 15 Jahren Erfahrung in makroökonomischer Analyse verfügt er über einen reichen Erfahrungsschatz bei der Bewertung grosser kontextbezogener Risiken für unsere Investitionen und verantwortet Investitionsentscheidungen in herausfordernden Märkten. Obwohl er seinen Fokus oft auf spezifische Länder legt, behält er das Gesamtbild im Auge und schreibt gelegentlich darüber, wie im obigen Artikel. Philipp hat einen zweisprachigen Master-Abschluss in Wirtschaftswissenschaften und ist Chartered Financial Analyst (CFA).